Siemens Manufacturing Karlsruhe (MF-K) nutzt die Plant Simulation-Lösung aus dem Tecnomatix-Portfolio im Rahmen ihres Continuous Improvement-Prozesses
Manufacturing Karlsruhe (MF-K) ist zusammen mit den Werken in Hagenau und Amberg einer von drei Fertigungsstandorten des Unternehmensbereichs Process Automation, der zur Process Industries and Drives Division der Siemens AG gehört. Angesiedelt im Siemens-Industriepark Karlsruhe produziert MF-K mit rund 1.000 Mitarbeitern auf einer Fläche von 37.000 Quadratmetern Steuerungen, Switches, W-LAN Router, Industrie PCs und andere elektronische Geräte in zahlreichen Varianten und in unterschiedlichen Losgrößen. Insgesamt umfasst das Fertigungsspektrum ca. 24.000 Produkte.
Elektronik lässt sich in Deutschland nur zu wettbewerbsfähigen Konditionen herstellen, wenn die Fertigung jeden Tagein bisschen besser wird. Deshalb hat das Siemens-Werk Manufacturing Karlsruhe im Rahmen des Continuous Improvement-Prozesses die Siemens eigene Software Tecnomatix Plant Simulation eingeführt. Heute werden damit nicht nur Produktionslinien vor dem Aufbau simuliert und optimiert – die Mitarbeiter im Werk steuern damit auch die tägliche Produktion.
„Unsere Vision lautet 100 Prozent Qualität, 100 Prozent Lieferleistung und 100 Prozent Verschwendungsfreiheit, d.h. wir wollen unsere Produkte mit so wenig Aufwand wie möglich fertigen“, betont Werksleiter Bernd Schmid. „Voraussetzung ist, dass die Fertigungsprozesse so laufen, wie wir uns das das vorgestellt haben. Dabei ist uns Plant Simulation eine große Hilfe.“ Für den konsequenten Einsatz der Simulations software wurde Siemens Manufacturing Karlsruhe kürzlich als einer der Preisträger im Wettbewerb „100 Orte für Industrie 4.0 in Baden-Württemberg“ ausgezeichnet. Die Expertenjury prämierte praxisrelevante Konzepte für die intelligente Vernetzung von Produktions- und ertschöpfungsketten.
MF-K ist ein Paradebeispiel für die Herausforderungen, die Fertigungsunternehmen heute mit Hilfe von Industrie 4.0 meistern:Hohe Varianz, kleiner werdende Losgrößen und schwerer vorhersehbare Schwankungen des Auftragsvolumens. Das Werk baut z.B. 125.000 Industrie PCs pro Jahr, aber die mittlere Losgröße pro Auftrag beträgt nur 1,8 Stück. Von neunzig Millionen möglichen Varianten, die im Regelwerk des Konfigurators abgebildet sind, werden ca. 10.000 tatsächlich genutzt. Die Lebensdauer einer Industrie PC-Generation beträgt 2,5 Jahre – kurz im Vergleich zu den ausgereiften SimaticSteuerungen, aber lang im Vergleich zur industriellen Kommunikation, die alle zwei Tage ein neues Produkt fertigen lässt.
Die Industrie-Kunden verhalten sich heute wie die Käufer eines Consumer PCs: Sie wollen ihr Produkt im Internet konfigurieren und nach Möglichkeit schon morgen geliefert bekommen. Um agiler auf solche individuellen Kundenwünsche und Schwankungen in der Auftragslage reagieren zu können, wird das MF-K die Fertigung in den nächsten Monaten komplett umbauen. Eine Operation am „offenen Herzen“, die ebenfalls mit Plant Simulation simuliert werden soll. Um beim Umzug Kollisionen zu vermeiden, müssen die bislang nur in 2D abgebildeten Anlagen erst mit dem NX Line Designer in 3D nachmodelliert werden.
Kontinuierliche Verbesserungsprozesse haben bei MF-K Tradition. „Wir sind stolz auf den Geschäftswertzuwachs durch Verbesserungsvorschläge der Mitarbeiter von neun Millionen Euro pro Jahr“, betont Schmid, der sich persönlich an der Suche nach einer Lösung für die Digitalisierung der Produktionsplanung beteiligte. „Plant Simulation ist ein Leuchtturm in unserer übergeordneten Digitalisierungsstrategie mit Blick auf Industrie 4.0, um täglich ein bisschen besser zu werden.”
Die Vision, mit Plant Simulation digitales Abbild der Fabrik zu schaffen, wurde vor vier Jahren nach einer Präsentation der Kollegen von Siemens Digital Industries Software geboren. Als Pilotprojekt für die Erprobung der software wählte das MF-K eine Selektivanlage, die an ihre Kapazitätsgrenzen gestoßen war und eigentlich ersetzt werden sollte. In dieser Anlage werden THT-Elemente (Through Hole Technology) selektiv auf bereits mit anderen Bauteilen bestückte Flachbaugruppen gelötet. „Die Schwierigkeit besteht darin, dass in der Anlage gleichzeitig verschiedene Produkte mit unterschiedlich langen Zeiten für die einzelnen Prozessschritte bearbeitet werden“, erläutert Bernd Bastian, einer der Plant Simulation-Anwender der ersten Stunde.
Durch Optimierung der Einsteuerung der Produktpaarungen und der Austaktung der Prozessschritte in der Anlage erreichte das MF-K eine deutliche Steigerung des Outputs, so dass auf die Anschaffung einer neuen Anlage verzichtet werden konnte. Sie hätte das Werk einen sechsstelligen Betrag gekostet, wie Markus Fischer, Leiter Continuous Improvement Processes in Karlsruhe sagt. Aufgrund der positiven Erfahrungen mit dem Pilotprojekt entschied sich die Werksleitung, die Software flächendeckend für die Optimierung der Fertigung einzusetzen.
Die bestehenden Arbeitsinseln, Anlagen und Fertigungszellen in Plant Simulation aufzubauen, kostet Bernd Bastian und seine Kollegen etwas Zeit. Die Software bringt zwar Bibliotheken mit für die Abbildung von Montagelinien und Materialflüssen bzw. Wertströmen mit. Sie mussten allerdings angepasst werden, um den Anforderungen der lektronikFertigung zu genügen. Inzwischen haben die drei Anwender ca. 60 bis 70 Prozent des Anlagenbestands abgebildet, was dadurch erleichtert wird, dass sich die Anlagen aus wieder verwendbaren Modulen zusammensetzen, wie Fischer sagt. „Dank unseres Baukastensystems ist das Grobmodell einer Arbeitsinsel heute in zwei Stunden erstellt.”
Zur Sicherstellung einer hohen Qualität fertigt MF-K im One Piece Flow, d.h. ein Mitarbeiter ist durchgängig vom ersten Montageschritt bis zum Verpacken für den Versand für ein bestimmtes Gerät zuständig. In einer Produktionslinie laufen immer mehrere Geräte einer Produktfamilie, die aufgrund der Varianz ganz unterschiedliche Montagezeiten haben können. „Die größte Herausforderung ist deshalb die Austaktung der Linie“, erläutert Bastian. „Die manuellen und automatischen Prozesse müssen so aufeinander abgestimmt werden, dass alle Geräte ohne Wartezeiten auf der gleichen Linie gefertigt werden können.”
Eine neue Produktionslinie aufzubauen war früher ein zeitaufwendiger Prozess. Erst wurde mit Kartons und Holzgestellen ein sogenanntes Cardboard Engineering durchgeführt, bei dem die Planer die einzelnen Arbeitsgänge zusammen mit den Werkern durchspielten. Nach mehreren Iterationsschleifen wurde dann in einem Workshop die reale Arbeitsinsel aufgebaut und eine Probeproduktion gestartet. Wenn die Insel einen Reifegrad von 80 bis 85 Prozent erreicht hatte, ging sie in Produktion, um im laufenden Betrieb weiter optimiert zu werden. Der ganze Prozess dauerte etwa drei Monate, wie Fischer weiter ausführt: „Heute schaffen wir das in drei Wochen, weil wir das, was wir früher im Cardboard gemacht haben, am Rechner simulieren. Dadurch dass wir in Plant Simulation unterschiedliche Szenarien durchspielen kkönnen, gehen wir außerdem mit einem ausgereifteren Konzept in die Workshops, so dass die Mitarbeiter nur noch das Feintuning zu machen brauchen.”
Mit Plant Simulation werden nicht nur einzelne Arbeitsinseln, sondern ganze Anlagen oder Produktionsbereiche simuliert, wie Bastian ergänzt. „In einem nächsten Schritt wollen wir die kompletten Materialflüsse in der Software abbilden, so dass wir das Auftragsvolumen einspielen und über den kompletten Fertigungsprozess sehen können, wo Engpässe auftreten.“ Neben den Auftragsdaten werden Arbeitspläne, Arbeitsplatzfolge mit den Zeiten für Mensch und Maschine sowie die Schichtpläne mit Anwesenheitszeiten der Mitarbeiter aus SAP® in Plant Simulation importiert, um die Fertigung unter realen Bedingungen zu simulieren.
Die Plant Simulation-Experten des MF-K sind zurzeit damit beschäftigt, Teile der Steuerungslogik aus SAP in den Simulationsmodellen nachzubilden. adurch werden sie in der Lage sein, ausgehend von Endtermin und Stückzahl auf dem Wege der Rückwärtsterminierung die Einsteuerung der Bauteile für die einzelnen Arbeitsschritte zu simulieren, wie Bastians Kollegin Anne Stetzler ergänzt: „Wir können die Simulationsmodelle dann auch nutzen, um die Einsteuerungslogik selbst zu optimieren, was niemand am Live-System wagen würde.”
Durch die Optimierung der Fertigungsabläufe haben sich im Laufe der letzten drei Jahre im Rahmen anerkannter KVP Verbesserungsmaßnahmen nachweisbare Ratio-Effekte im Wert eines signifikanten sechsstelligen Betrages ergeben, und darin sind die Effekte durch Ablaufoptimierungen im täglichen Betrieb noch nicht erfasst. Siemens MF-K nutzt die Simulationsmodelle nämlich nicht nur für strategische Aufgaben wie den Um- oder Neubau von Anlagen, sondern auch für die Produktionssteuerung im operativen Tagesgeschäft.
„Linienverantwortliche und Werker simulieren damit, wie sie Produktionsmenge von morgen am besten durch ihre Produktionsinseln steuern“, sagt Fischer.„Sie können z.B. sehen, ob sie mehr Leute benötigen oder wie sich der Ablauf verändert, wenn sie einen Mitarbeiter rausnehmen. Wir haben sogar eine Optimierungslogik programmiert, die ihnen die optimale Auftragsreihenfolge vorschlägt.“
Dass die normalen Beschäftigten in der Fertigung mit Plant Simulation ihre Arbeit selbst optimieren, ist in dieser Form ziemlich einzigartig. Die Keyuser haben einen intuitiven Benutzerdialog für die Eingabe der Simulationsparameter programmiert, so dass die Anwender sich nicht um das komplexe Regelwerk zu kümmern brauchen. „Seitdem alle erkannt haben, wie zuverlässig die Simulation funktioniert, will keiner die Software mehr missen“, sagt Fischer abschließend. „Die Mitarbeiter begreifen sofort die Abläufe und sehen auch schneller, wo man noch etwas verbessern kann.“